Reve Ta Stogne - we didn`t talk much, out of worries and everything

hd video, 11 min / 2013

 

“Storytelling reveals meaning without committing the error of defining it.”

Hannah Arendt

 

Wie erzählt man eine Geschichte?

Im Roman „Atemschaukel“ von Herta Müller wird das Schicksal eines jungen Rumäniendeutschen beschrieben, der nach dem Zweiten Weltkrieg zur Wiedergutmachung für fünf Jahre in ein Arbeits-/Konzentrationslager in die Ukraine verschickt wird. Herta Müller wurde für die Sprache, die sie fand, um dem Unbeschreiblichen Ausdruck zu verleihen, mit einem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

Lisa Biedlingmaier ist mit ähnlichen Geschichten aufgewachsen. Ihre Grosseltern waren Russlanddeutsche, die im Zweiten Weltkrieg nach Sibirien in Arbeitslager deportiert wurden. Dennoch war es die „Atemschaukel“, die ihr das Leid ihrer Familie erst vor Augen führte.

So stellte sich ihr die Frage: Braucht es Schriftsteller, Filmemacher oder Künstler als Vermittler von Geschichten? Die Erzählweise ist ein grosser Bestandteil einer Geschichte und das Zusammenspiel verschiedener stilistischer und sprachlicher Faktoren entscheidet über die Tatsache, ob die Geschichte erzählens- und erinnernswert ist. Eine Geschichte braucht Publikum, und der Weg ins kulturelle Gedächtnis führt über ein breites Interesse oder Mitgefühl.

 

Auf verschiedene Weisen versucht Biedlingmaier, sich an die Thematik heranzutasten. In der Arbeit „Katharinenfeld - Luxemburg - Bolnisi“ führte sie erstmals Interviews mit ihren Verwandten (der älteren Generation). Drei Frauen erzählen vor der Kamera von Erlebtem im Kaukasus, in Sibirien, in Deutschland. Autobiographische Zeitzeugenberichte in den Wirren der Weltgeschichte - und doch mit einem gemeinsamen Schicksal, das stellvertretend für ein ganzes Volk steht.

 

Ein Interview wurde zur Grundlage für eine weitere Arbeit: „Reve ta stogne“.

Die Geschichte der Grosstante Edith Biedlingmaier wird hier in einer Mischform aus Film und Dokumentation als Theaterprobe inszeniert. Ausser ein paar Requisiten ist die Bühne leer, und die Schauspielerinnen lesen ihren Text vom Blatt ab. Der Inhalt wird transformiert, jedoch ohne definitive Ausgestaltung. Durch das noch offene Ergebnis wird der Zuschauer in den Prozess der Entstehung und der Interpretation mit einbezogen, denn das Theaterstück ist noch in der Formfindung.

 

Doch nicht nur das Formale wird thematisiert. Die Eigenschaften des Sich-Erinnerns werden aufgefächert. Die 88-jährige Erzählerin bekommt ihr junges Pendant an die (ihre) Seite gestellt. Ein Wechsel zwischen den Beiden veranschaulicht die verschiedenen Sichtweisen, die sich durch die Zeit transformieren. Eine Beziehung zwischen zwei Frauen, die ein- und dieselbe sind.

Weiter wird die Erzählung auf mehrere Monitore aufgeteilt, um die Diskrepanz zwischen dem Erlebtem und der Erinnerung zu zeigen.

Im Verlauf der Geschichte ändert sich die Interpretation des vermeintlichen Schicksals mehrmals. Wendepunkte im Leben werden immer wieder neu bewertet. Die eindeutige Zuordnung des Guten und Bösen hebt sich auf, denn ausgerechnet die Willkür des Ukrainischen Lagerchefs führt am Schluss zu einer positiven Schicksalswende und somit zum Überleben der jungen Frau.